Sprachkürze gibt Denkweite.

Jean Paul
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AE
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet

Der Titel sagt es kurz und prägnant: In Michel Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“ geht es um das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. Die Hauptfigur, ein junger bildender Künstler, will nichts Geringeres als „eine objektive Beschreibung der Welt“ liefern. Er versucht dies in aufeinander folgenden manischen Schaffensphasen, unterbrochen von Lethargie, indem er sich an unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen abarbeitet. Abgesehen von Alter, Attraktivität und enormem Reichtum ist er seinem Autor ziemlich ähnlich. Beide teilen den Hang zur sozialen Isolation, zum Alkohol und zur tendentiellen Verwahrlosung. Beide verdienen mit ihrer Kunst eine Menge Geld, ohne jedoch gesteigertes Interesse am Konsum zu entwickeln.

Jed Martins beruflicher Erfolg nährt sich – Seitenhiebe auf den Kunstbetrieb sind dick aufgetragen – in erster Linie von Zufällen, Missverständnissen und Marketingaktionen. Gefördert wird er dadurch, dass er in der Öffentlichkeit eher wortkarg und unbeholfen auftritt. Auch hier also Parallellen zu seinem Erfinder. Der lässt noch einen zweiten Doppelgänger auftreten, um das Thema „Karte und Gebiet“ durchzuspielen. Einen, der mit Michel Houellebecq Namen, Profession und womöglich sonst noch jede Menge teilt und der mit Jed Martin intelligente (Selbst-)Gespräche über die Kunst und das Leben führt. Der Autor als seine eigene Romanfigur – gerühmt, gewitzt, gebildet und als sein eigenes Klischee – verwahrlost, versoffen und vereinsamt.

Die Inszenierung des gewaltsamen Todes, oder sollte man sagen der „Fledderung“ die der Autor seinem Kunst-Ich und dessen Hund angedeihen lässt, ist ein ironisches Kabinettstückchen. Mit Houellebecqs zerstückelten Körperteilen, die über den Boden seines Wohnraums verteilt sind, karikiert der Autor wiederum den zeitgenössischen Kunstbetrieb und brüskiert zugleich diejenigen Kritiker, die ihn auf symbolische Weise verreißen. Die Geschichte, die hier vorübergehend zum Krimi wird, mündet am Ende in eine Dystopie, in deren Licht der Romantitel zur Aufstellung eines Zweikampfs wird: Menschliche Zivilisation versus Natur. Die menschliche Zivilisation wird den Sieg nicht davon tragen.

Ob die Verleihung des Prix Goncourt für diesen Roman auch auf einem Missverständnis beruht? Wer weiß. Eine Annäherung an den Mainstream, wie einige Rezensenten behaupten, ist „Karte und Gebiet“ mit Sicherheit nicht. Es ist vielleicht sogar Houellebecqs pfiffigstes Buch, ein selbstreferentieller Meta-Roman, der die grauen Zellen gehörig auf Trab bringt.

Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“,
DuMont Verlag, Köln 2011. 400 Seiten, 22,99 EUR
JW
Frankfurter Buchmesse
Eine Fortsetzungsgeschichte, 63. Folge.

Diesmal: Die neuen Medien. Ein Thema, das seit 30 Jahren bekannt ist, hat es endlich auf den ersten Platz der Warteliste geschafft. Es ist „aktuell“.

Ansonsten alles neu wie jedesmal.

17.10.2011 (1)
AE
Martin Suter:
Allmen und die Libellen
Allmen und der rosa Diamant

Ein Sprachkünstler ist Martin Suter nie gewesen. In seinen ersten Romanen nutzte er die Sprache allerdings so geschickt, dass zwischen den Zeilen eine magische Atmosphäre entstand. Seine Glanzstücke legte der Meister der Unterhaltungsliteratur mit seinen ersten Romanen „Small World“ (1997) und „Die dunkle Seite des Mondes“ (2000) vor. Beides sehr dicht und spannend erzählte Erzählungen, deren Protagonisten ihren Realitätssinn verlieren.

Auch in den dritten und vierten Romanen „Ein perfekter Freund“ (2002) und „Lila, Lila“ (2004) sowie bis zu einem gewissen Grad in seinem fünften Roman „Der Teufel von Mailand“ (2006) treibt der Schweizer Autor ein intelligentes und spannungsreiches Spiel mit Identitäten und mit der Relativität von Wahrnehmung. Suter, auch bekannt durch seine pointierten Businessclass- und Geri-Weibel-Zeitungskolumnen, beherrscht die Fähigkeit, Pageturner zu erzeugen. Nicht zuletzt deswegen wurde er früh zum Bestseller-Autor, dessen mit schöner Regelmäßigkeit alle zwei Jahre erscheinenden Romane von einer wachsenden Fangemeinde mit Spannung erwartet werden. Was die Spannung in den Romanen betrifft, so nimmt diese mit ebenso schöner Regelmäßigkeit von Buch zu Buch ab. Der Plot sowohl in „Der letzte Weynfeld“ (2008) als auch in „Der Koch“ (2010) wirkt konstruiert, vergleichsweise vorhersehbar und geheimnislos.

Nun hat Martin Suter kurz hintereinander gleich zwei Romane vorgelegt: „Allmen und die Libellen“ sowie „Allmen und der rosa Diamant“ sind die ersten beiden Folgen seiner neuen Detektiv-Reihe um Johann Friedrich von Allmen. Diesem feinsinnigen verarmten Adligen mit deutlichem Hang zum Luxus gesellt Suter einen pfiffigen, ihm höchst ergebenen Diener und Co-Ermittler bei. Eine klassische Paar-Konstellation also, wie wir sie aus vielen Kriminal-Geschichten kennen. Die Motivation, mit der sich der notorische Snob Allmen selbst eher zufällig in eine Karriere als Detektiv (sprich: International Inquiries) bugsiert , ist sein chronischer Geldmangel, genährt durch chronische Verschwendungssucht.

Das könnte nun ad infinitum so weiter gehen. Doch will man das? Zwar gewährt die Lektüre dem Leser durchaus eine Menge differenzierter Beobachtungen und kluger Schlüsse. Zwar ist der dandyhafte Allmen Träger angenehmer, höchst kultivierter Eigenschaften, doch wirklich lebendig erscheint er nicht. Der wenig originelle und an vielen Stellen bemüht wirkende Plot besitzt zudem den Haut Gout der Auftragsliteratur. Schade eigentlich.

Martin Suter: „Allmen und die Libellen“,
Diogenes Verlag, Zürich 2010. 208 Seiten, 18,90 Euro.
Martin Suter: „Allmen und der rosa Diamant“
Diogenes Verlag, Zürich 2011. 219 Seiten, 18,90 Euro
29.08.2011 (1)
AE
„Lisa“ von Thomas Glavinic

Die Konstruktion erinnert an Thomas Glavinics Roman „Die Arbeit der Nacht“. Auch „Lisa“ besteht aus einem über mehrere Tage fortgeführten Monolog eines Paranoikers, den zugleich die Angst vor und die Sehnsucht nach anderen Menschen umtreibt. Während sich aber Jonas, der Protagonist jenes früheren Romans plötzlich eines Morgens allein auf der Welt findet und vor diesem Hintergrund diverse Aktionen anzettelt, geschieht in „Lisa“ auf der linearen Zeitebene so gut wie nichts. Die maßgebliche Erzählhaltung ist die des Rückblicks.

Wie schon in seinem Roman "Das bin doch ich" spielt Glavinic auch hier mit der Identität von literarischem und Autor-Ich: „Nennt mich Tom. Das ist eine Idee von mir. Ich bin eine Idee von Tom“. Dieser Tom begegnet uns als permanent von Koks und Whisky zugedröhnter Spieleentwickler, der sich von einer ubiquitär aktiven Mörderin, die er Lisa nennt, verfolgt fühlt. Aus seinem Versteck in einem abgelegenen Waldhaus beplappert er per Internet-Live-Stream die Welt, respektive die Leser, mit kommentierten Erinnerungen. Wir lesen eine Suada des Weltekels: „Ich bin nur ein Leidender am Gesamtzustand der Unerträglichkeit. Ich bin ein Opfer der kollektiv gewordenen Zufriedenheit mit dem leicht Erreichbaren.“ Zwar sind die kritischen Einschätzungen, die der Autor seinem alter ego in den Mund legt, etwa über Paarbeziehungen, über den Kunstbetrieb oder über Fußballfans, meist recht schlau und wohl formuliert. Doch die Aneinanderreihung dieser amüsanten, zur inneren Zustimmung anregenden Passagen birgt zugleich die Schwäche dieses Werks, die es leider mit so manchem zeitgenössischen Roman im deutschen Sprachraum teilt: Die Geschichte dient dem Autor vor allem dazu, seine eigene Pfiffigkeit vorzuführen.

So kommt es, dass die Erzählung unter der Fülle der vorgeführten Einzelheiten ein wenig fadenscheinig wirkt. Die beiläufig angeführte Enttarnung Lisas entpuppt sich denn auch - man hatte es so von Anfang an geahnt - als eher peinlich. Viel Lärm um nichts also. Um das Ruder dann noch herumzureißen, wagt der Autor am Ende einen überraschenden Schwenk ins Metaphysische. Vergeblich. Der Leser merkt die Absicht, und ist verstimmt.

Thomas Glavinic: „Lisa“
Carl Hanser Verlag, München 2011, 208 Seiten, Fester Einband, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3-446-23636-3
09.07.2011 (6)